Ein Jahr Corona – Simanowski: Neue Digitalisierungs-Standards bleiben
„Tractatus”-Preisträger: „Es ist bequem, bestimmte Aussagen nicht mehr zu glauben” – „Wichtig, dass man sich auf andere Standpunkte einlässt”
Das Auftreten des Coronavirus in Österreich hat sich kürzlich zum ersten Mal gejährt. Es war ein Jahr, das auch in der Digitalisierung – vom Distance-Learning bis zum Zoom-Meeting im Homeoffice – teils massive Disruptionen mit sich gebracht hat. In seinem im März erscheinenden Buch „Das Virus und das Digitale” analysiert der Medienwissenschafter Roberto Simanowski die Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen von der Privatsphäre über die „Infodemie” bis hin zur Medienkompetenz.
Der im vergangenen Jahr immer deutlicher sichtbar gewordene Graben zwischen Anhängern von Verschwörungstheorien und der „Lügenpresse” ist für Simanowski auch der Dauer des Ausnahmezustands geschuldet, wie er im APA-Gespräch sagt. Die Frustration in der Bevölkerung über die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werde zunehmend größer, weshalb auch die Bereitschaft sinke, Entbehrungen auf sich zu nehmen; was im Übrigen auch gegen einen „Reset”, also ein Umdenken etwa in ökologischen Fragen, spreche. Bereits vor Corona habe man eine „Entmachtung der Experten” und eine Zuwendung zur Informationsbeschaffung aus sozialen Netzwerken beobachten können.
„Es ist einfach bequem, bestimmten Aussagen in den öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr glauben zu müssen”, analysiert er. Zum einen, weil sie den eigenen Interessen, in diesem Falle etwa der schnellen Rückkehr zur Normalität, widersprechen, zum anderen sei es eventuell auch zu komplex. „In den Filterbubbles ist es meist weniger anspruchsvoll und es entspricht auch mehr den eigenen Vorstellungen”, fasst er die Hinwendung zu alternativen Fakten zusammen. „Dann brauche ich natürlich einen Begriff, um das Andere zu disqualifizieren – und dafür steht dann ‚Lügenpresse‘ schon parat.”
Der grassierenden Fake-News-Pandemie Herr zu werden, sei schwierig. „Es wissen ja faktisch alle, dass es unterschiedliche Ansätze gibt, und man beschimpft dennoch die jeweils andere Seite als Fake News”, so der aktuelle „Tractatus”-Preisträger. „Wichtig ist, dass man sich überhaupt auf andere Standpunkte einlässt.” Hier sieht er den Bildungssektor stark gefragt. „Dass man lernt, kritisch mit anderen Meinungen umzugehen, das muss man lernen.” Allerdings sei zu bemerken, dass auch Intellektuelle Verschwörungstheorien anheimfallen können. „Wir müssen wegkommen von der nicht fruchtbaren Argumentation, dass Verschwörungstheoretiker Idioten sind, mit denen man sowieso nicht mehr reden kann.”
„Freier Wille wichtiger als die Systemstabilität”
Ein weiteres Feindbild ist in vielen europäischen Ländern auch die „Corona-App”, die viele Menschen nicht nutzen wollen, da sie Datenschutzbedenken haben oder sich schlichtweg vom Staat nichts aufzwingen lassen wollen. Eine Kritik, die laut Simanowski im europäischen Raum der Erfahrung der Aufklärung geschuldet sei. Dass man sozialen Fragen mit technischen Lösungen begegnen will – der sogenannte Solutionismus – werde kritisch hinterfragt. „Der freie Wille ist bei uns wichtiger als die Systemstabilität”, erläutert er. Das zeige sich auch bei den Maßnahmen, die etwa in Südostasien wesentlich strikter umgesetzt werden als hier. „Bei uns versucht man es mit dem Appell an den freien Willen.” In Gesellschaften, die weniger individualistisch ausgerichtet seien, ließen sich Verordnungen viel einfacher erlassen und forcieren. Der westliche Individualismus sei eines der Dinge, die in einer Pandemie auf dem Prüfstand stehen.
Eine weitere Domäne, deren Grenzen derzeit perforiert werden, ist das Private. Durch Homeoffice und Zoom-Meetings gebe es plötzlich eine noch viel stärkere Verquickung der beiden Bereiche als früher. Hier gibt Simanowski zu bedenken, dass so gut wie jedes unserer Gespräche aufgezeichnet werden könne, meist auch noch mit dem eigenen Bild aus dem privaten Bereich. Das mache es einfach, unbewusste Reaktionen, die ansonsten verborgen bleiben, im Nachhinein zu analysieren. Wie war der Gesichtsausdruck des Mitarbeiters in einer bestimmten Situation? Dies könne nun ganz schnell im Nachhinein ausgewertet werden. Zugleich fehle die persönliche, informelle Interaktion, die ja immer auch zu kreativen neuen Ideen geführt habe. „Die Kaffeepause fehlt”, konstatiert Simanowski. Zugleich liege der ökologische Nutzen virtueller Treffen auf der Hand – man werde künftig eventuell nicht mehr für eine einzige Konferenz um den Erdball reisen müssen.
Weitere Chancen ortet er im Bildungsbereich, wo Bestrebungen zur Digitalisierung bisher aus durchaus plausiblen Gründen abgelehnt worden waren, nun aber notwendig geworden sind. Hier befürchtet er, dass die Digitalisierung nicht mit der Pandemie ende. „Es wird ein neuer Standard gesetzt werden”, ist er überzeugt, mit dem pädagogische Bedenken überschrieben werden. „Vieles davon wird bleiben, weil es sich in der Pandemie als nützlich erwiesen hat, und Standards auch für die post-pandemische Zeit setzen.”
Dass sein Buch (Passagen Verlag) nun mitten in der Pandemie erscheint und es für einen finalen Rückblick noch zu früh ist, ist Simanowski klar. Daher habe er bewusst im Prolog und Epilog eine persönliche Klammer gewählt, um deutlich zu machen, dass es sich auch bei der wissenschaftlichen Einordnung um einen subjektiven Zugang handelt. Es sei klar, dass jeder die Krise anders erlebe. „Daraus resultiert, dass wir unterschiedlich darauf schauen. Diesen Umstand sollten Bücher, die jetzt erscheinen, mitreflektieren.”
(Das Gespräch führte Sonja Harter/APA)
Service: Roberto Simanowski: „Das Virus und das Digitale”, Passagen Verlag, 96 Seiten, 12,30 Euro.